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Der Rhöner 2.0

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documenta-fifteen

Aktualisiert: 20. Sept. 2022

Mein ökologischer Fußabdruck wechselt die Farbe und den Zustand von rabenschwarz zu laubfroschgrün. Im Laufe der letzten dreißig Jahre habe ich die Erde mit dem Auto rund sechzig Mal am Äquator umrundet, dabei 140.000Liter Dieselkraftstoff verbraucht und 375.000 Kilogramm CO2 in die Luft geblasen..

Seit dem 1. Juli 2022 ist damit Schluss. Ich wasche meine Füße in Unschuld. Kurze, längere und lange Wegstrecken werden zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem ÖPNV zurückgelegt.


Das 9€ Ticket der Deutschen Bundesregierung hat mir den Besuch der documenta-fifteen leicht gemacht und ans Herz gelegt.


1. Station Kulturbahnhof Kassel - Installation von Professor Franz Biggel (Hochschule für Gestaltung/ Schwäbisch Gmünd)


nicht-spüren


hat eine verständliche Logik,

ist sehr erfolgreich- macht uns zu suchenden Süchtigen,

zerstört unsere Erlebnisfähigkeit,

ruiniert die Menschheit,

verwüstet unseren Planeten.


Meine erste Begegnung auf der documenta-fifteen beschert mir ein Aufeinandertreffen mit dem Künstler. Er sitzt barfuß und aufrecht auf einem Stuhl. Seine Sandalen liegen am Eingang auf einer Matte. Ich halte ihn zunächst für einen Besucher. Eine bedruckte Stoffbahn gleitet von der Wand und bedeckt den gesamten Fußboden. Das Motiv einer stillenden Frau mit ihrem Säugling im Arm, wiederholt sich hundertfach. An der Wand noch groß und eindrücklich, wird das Motiv am Boden klein und schwerer wahrnehmbar.

Wir kommen ins Gerede, schnell wird mir klar, wen ich da neben mir sitzen habe.


Professor Biggel beschreibt den Stellenwert und die Fähigkeit des Fühlens, des sich und andere Spürens, als entscheidende Einflussgröße auf die evolutionäre Entwicklung des Menschen. Vor allem der Verlust von Fühlen und Spüren habe eine drastisch zerstörerische Wirkung, wie die Geschichte uns lehrt:


Herr Professor Biggel, was haben wir wann falsch gemacht?

"Die erste große Umweltkatastrophe, verursacht durch Menschenhand, fand vor ca. 2000 Jahren statt. Durch den Abbau von Wald für Kriegs-, Handelsflotten und für die Metallgewinnung wurden große Teile des Mittelmeerraums in Halbwüsten verwandelt. Eine Blaupause oder Generalprobe für unser heutiges Tun - allerdings mit tausendfacher Hebelwirkung. Das treibende Betriebssystem nimmt, was es kann - bis heute. Und immer ging und geht es um das Siegen um jeden Preis, unter Inkaufnahme von Gewalt an Natur und Mensch."


Warum können wir nicht einfach noch mal von vorne anfangen?

" In unserem Geld- und Wirtschaftssystem ist ein Wachstumszwang angelegt, Dieser trennt permanent Gewinnende und Verlierende. Er produziert immer härtere Konkurrenz und Milliarden von unnötigen Arbeitsstunden, die den Frauen und Männern für mitfühlende Erziehung ihrer Kinder verloren geht. Der Konkurrenzdruck wird durch Social-Media in exzessive Höhen getrieben. Wir können noch schneller noch heller leuchten, können aber auch blitzschnell via Shit-Storm in ungeahnte Tiefen stürzen. Dieser "Krieg" saugt und fordert unsere volle Aufmerksamkeit und abermals bleibt nichts mehr übrig für Eigenwahrnehmung und Sich- Selber-Spüren."


Können Sie Ihre Aussagen an einem konkreten Beispiel festmachen?

"Wer die Biografie von Adolf Hitler kennt, versteht, wie das Trauma einer Kindheit auf 100 Millionen Menschen übertragen wurde. Auch hier, Verletzung, Ängste, Abstumpfung. Eine *geniale, dunkle* Software-Vervielfältigung deren Langzeitwirkung vermutlich nicht nur bis nach Palästina reicht. Ähnliches bei Stalin, Mao, Hussein, Erdogan, Putin. Wer hier genauer hinschaut, entdeckt bei der Betrachtung des Stammes- oder des Staats- Betriebssystems einen sehr heiklen versteckten Punkt: Beim Heranwachsen eines Kindes beteiligt sich in der Stammeskultur ein ganzes Dorf (Sozialsystem). In Staatsorganisationen hat sich die Familien- Struktur als attraktiv erwiesen - mit dem Risiko, dass ein Kind darin gefangen ist und im ungünstigsten Fall keine Hilfe, kein Mitgefühl von außen kommt. Adolf Hitler ist dies passiert und Millionen seiner Anhänger*innen , die ihn bewunderten und als Retter erkoren, ebenso. Das Familiensystem ist ein Risikosystem für *extremes* Abtriften. Eine tückische, systemstabilisierende Variante."


Hat der Mensch noch eine Chance?

"Wer noch glauben will, wir könnten ohne grundsätzliche Infragestellung unseres kollektiven, psychischen Zustands Klimawandel, Artensterben, Mikroplastik, etc. in den Griff bekommen, der muss seinen Geist sehr verbiegen."


Was hat das alles mit Fühlen und Spüren zu tun?

"Wenn Eigenwahrnehmung nicht mehr stattfindet, so verkümmert unsere Fähigkeit zur Eigenwahrnehmung und Uns-Selber-Spüren zusehend- mit der Konsequenz, das wir nicht einmal mehr spüren, das wir uns nicht spüren."


Für mich klingt das nach einer düster fortschreitenden Demenz unserer Wahrnehmung. Je tiefer wir einsinken, um so schwieriger erscheint eine Umkehr. Bis heute haben wir weder ein Mittel noch ein Zukunftsrezept gegen evolutionären Honig im Kopf.


Professor Franz Biggel hat ein Essay über seine Arbeit geschrieben. Ich habe es mir gekauft.


2. Station Bahnhofsvorplatz - Systemfehler²


Bereits vor fünf Jahren, auf der Documenta 2017, präsentierte die Caricatura Galerie unter dem Titel "SYSTEMFEHLER" Cartoons zur Weltlage.

Jetzt sind sie wieder da und legen ihre Finger in die entzündeten Wunden.

76 Künstler präsentieren ihre Ergüsse zu den aktuellen Themen der Zeit.


Herrlich, herrlich, ein Besuch dieser Ausstellung ist Labsal für die Seele...

Hier ein paar Kostproben...



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3. Station- Kunstzentrum WH22


Im Obergeschoss des Kunstzentrums treffe ich auf einen adrett gekleideten Referenten, mit einer Gruppe junger Leute im Schlepptau. Er doziert über die Krisen dieser Welt, über Religionskriege und Verwerfungen der letzten Jahrhunderte.

Irgendwann hält er inne und fragt, was die Bilder im Kontext seiner Erläuterung mit ihnen machen. Verlegenes Schweigen breitet sich auf den Gesichtern aus.

Schließlich melde ich mich zu Wort und verkünde, einen passenden Titel für die Trilogie zu haben.

"Der da wäre?"

"Zweitausend Jahre nichts dazugelernt"






4. Station- Museum Fridericianum








5. Station- Documenta Halle


Mein persönliches Highlight in der Documenta Halle ist die "Markthalle". Es geht um das Thema Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft, um Ernährung im Allgemeinen und Essen im Besonderen.


Alles ist aus Glas, wie bemalte Weihnachtskugeln. Eine pfiffige Idee...

6. Station- Fossiles Braunkohlen- Brikett-Haus der Marke Rekord


7. Die siebte Station ist das Nordsee Restaurant am oberen Ende des Friedrichsplatzes. Ich bin durch. Genug ist genug auch wenn ich längst nicht alles geschafft und gesehen habe. Im Außenbereich finde ich einen freien Tisch im Schatten einer Markise. Es gibt, oh Wunder, Fischsuppe.


Der Eklat um das Großplakat "People's Justice" der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi geht mir durch den Kopf. Der Generaldirektorin der Documenta, Sabine Schornemann, hat es den Selbigen gekostet. Das Banner wurde abgebaut, der Vorwurf: Antisemitismus.


Als Kind des Ostens bin ich mit drei Lehren aufgewachsen. Als Protestant geboren, lernten wir in der Christenlehre, dass die Juden Jesus Christus ans Kreuz geschlagen haben. In der Schule mündete alles Jüdische im Holocaust. Als Erwachsener erlebe ich einen Zentralrat der Juden, der mit scharfer Klinge alles erschlägt, was nach Antisemitismus klingt, riecht, aussieht oder gedeutet werden kann. Die dunkle Vergangenheit unserer Groß- und Urgroßeltern verbietet den freien Blick über den Tellerrand.


Am Beispiel des Großplakats "People's Justice" arbeitet sich die Künstlergruppe am indonesischen Massenmord von mehr als einer halben Million Menschen im Jahre 1965 ab.

"Wie viele unserer Kunstwerke versucht das Banner, die komplexen Machtverhältnisse aufzudecken, die hinter diesen Ungerechtigkeiten stehen«, schreiben die Künstler in ihrem Statement.


Ich halte den Abbau des Banners für einen Fehler. Er beraubt nicht nur mich der Möglichkeit des Diskurses, er macht mich unmündig und stellt mich ins Abseits.

Ich frage mich ernsthaft, ob mich meine Haltung bereits zum Antisemiten macht.


Mein 9€Ticket bringt mich wieder nach Hause.. Im Bad schaue auf meine Füße. Immer noch eher schwarz als grün.


Nachtrag vom Sep.2022

Der Streit um die documenta fifteen wurde zum Politikum stilisiert und ist erwartbar eskaliert. Das Grundrecht der Kunstfreiheit hat diese Schlacht verloren.

Das ARD hat eine Doku dazu gemacht. Sie ist am 19.09.2022 erschienen.





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